Freitag, 24. Juni 2016

Was kommt nach dem "Brexit"?

Das gestrige Votum der britischen Bevölkerung für den EU-Austritt ihres 
Landes erschüttert die EU und die Pläne Berlins, den Staatenbund für die 
eigene Weltmachtpolitik zu nutzen. Laut aktuellem Stand haben sich bei 
einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent annähernd "52 Prozent" der 
britischen Wähler für den Abschied aus dem Bündnis ausgesprochen. 

Das Votum wiegt für Berlin nicht nur deshalb schwer, weil nun die zweit-
größte Volkswirtschaft nach Deutschland und eine herausragende militä-
rische Macht die EU verlässt und damit für eine über das europäische 
Bündnis operierende Weltpolitik nicht mehr zur Verfügung steht. Darüber 
hinaus droht eine Kettenreaktion: Auch in anderen EU-Staaten wird die 
Forderung nach einem Referendum laut; die zunehmende Unbeliebtheit 
der EU in einer ganzen Reihe von Mitgliedsländern stärkt zentrifugale Kräfte. 

Die schwedische Außenministerin warnt explizit vor einem „Spill-over-Effekt“, 
der zum Beispiel zu einem schwedischen EU-Austritt führen könnte. In 
deutschen Medien wird die Forderung laut, das Referendum zu ignorieren 
und das britische Parlament für den Verbleib in der EU votieren zu lassen. 
Berlin leitet inzwischen erste Schritte ein, seine nationalen Positionen zu 
stärken – unabhängig von der EU.

Die gestrige Entscheidung der britischen Wähler für den Austritt ihres 
Landes aus der EU ausgesprochen. Damit hat zum ersten Mal in der 
Geschichte des Staatenbundes die Bevölkerung eines Mitgliedslandes 
die Trennung von dem Bündnis beschlossen. Gelang es der EU bisher, 
sich stets zu erweitern, so ist diese Dynamik nun gebrochen.



Brexit - Triumph für Nigel Farage 

Außerhalb Großbritanniens hat die Abstimmung schon in den vergangenen 
Wochen nicht nur den Gedanken gefestigt, dass der Verbleib in der EU 
tatsächlich zur "Debatte" gestellt werden kann, sondern dass dadurch 
auch konkrete Wünsche nach Referenden in anderen Staaten geweckt
werden. Anfang Mai ergab eine Umfrage in neun EU-Staaten, die zusam-
men drei Viertel der EU-Bevölkerung und 80 Prozent des Bruttoinlands-
produkts repräsentieren, eine Zustimmung von 45 Prozent zu der 
Forderung, ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft des eigenen 
Landes abzuhalten. In Frankreich sprachen sich 55 Prozent, in Italien 
sogar 58 Prozent dafür aus. 

Austrittswillen: 

Rund ein Drittel der Befragten erklärten, sie würden bei einem Referen-
dum für einen Austritt aus der EU stimmen. In Schweden äußerten dies 
39 Prozent, in Frankreich 41 Prozent, in Italien sogar 48 Prozent der 
Befragten. Anfang Juni ergab eine Umfrage in Dänemark, dass auch dort 
42 Prozent ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft wünschen; im 
Februar waren es lediglich 37 Prozent gewesen. Gleichzeitig fiel die Zahl 
derjenigen, die bei einem Referendum für einen Verbleib in der EU stimmen 
würden, von 56 Prozent im November 2015 auf 44 Prozent, während die 
Zahl der Austrittsbefürworter von 31 Prozent im November 2015 auf 42 
Prozent stieg.


Positive Bewertungen: 

Jenseits der Frage nach Referenden über die EU-Mitgliedschaft hat eine 
Anfang Juni publizierte Umfrage in zehn EU-Staaten gezeigt, dass der 
Staatenbund immer negativer beurteilt wird. Klare positive Bewertungen 
des Bündnisses sind demnach vor allem noch in Polen (72 Prozent) und 
Ungarn (61 Prozent) anzutreffen. In Spanien hingegen bewerten nur noch 
47 Prozent die EU positiv – 16 Prozentpunkte weniger als 2004 -, während 
49 Prozent sie als negativ einstufen.

Niederschmetternde Werte:

In Frankreich ist die Zustimmung von 2004 bis 2016 sogar um 17 Prozent-
punkte auf 38 Prozent gefallen, während 61 Prozent die EU ablehnen. 
In Griechenland bewerten mittlerweile 71 Prozent der Bevölkerung die EU 
negativ, während lediglich 27 Prozent ihr das Attribut „positiv“ verleihen. 
Niederschmetternde Zustimmungswerte erhält die EU demnach besonders 
in Antworten auf die Frage, wie ihr Vorgehen in der Wirtschaftskrise bewertet 
wird. Faktisch handelt es sich dabei um eine Bewertung der deutschen Austeri-
tätsdiktate. Lediglich in zwei der zehn Staaten, in denen die Umfrage durch-
geführt wurde, überwiegt eine positive Bewertung – in Deutschland sowie in 
Polen (47 zu 38 respektive 47 zu 33 Prozent). In Spanien lehnten 
65 Prozent der Befragten die EU-Krisenpolitik ab, in Frankreich 66 Prozent
in Italien 68 Prozent und in Griechenland sogar 92 Prozent.

„Den Volkswillen ignorieren“

Die wachsende Ablehnung gegenüber der EU ist insbesondere deswegen von 
Bedeutung, weil die bisherige erprobte Methode, EU-kritische Milieus über die 
EU-orientierten Funktionärsriegen der großen politischen Parteien zu neutrali-
sieren, bei Referenden nicht mehr funktioniert. In Großbritannien etwa haben 
gestern traditionelle Labour-Hochburgen klare Mehrheiten für einen Austritt 
hervorgebracht, während in der Labour-Fraktion im britischen Unterhaus ledig-
lich sieben Abgeordnete klar für den Abschied von der EU eintreten, 215 jedoch 
den Verbleib teils energisch befürworten. 

In Deutschland werden nun Forderungen laut, das Referendum einfach zu igno-
rieren. So hat der Londoner Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“, Thomas 
Kielinger, am Dienstag erklärt, der Premierminister sei möglicherweise an das 
Referendum gebunden, nicht jedoch das Parlament: „Ist es denkbar, dass … 
das Unterhaus bei einem möglichen Brexit überlegen könnte, den Volks-
willen zu ignorieren und den Abschied von der EU zurückzuweisen?“ 

Kielinger urteilt, das sei „nicht nur denkbar, sondern sogar wahrscheinlich“! 

Er meint: „Von den 650 Abgeordneten sind 455 für Remain, 130 für 
einen Brexit, 65 unentschieden. In Prozenten ausgedrückt: 70 Prozent 
pro Remain, 20 Prozent pro Leave, zehn Prozent nicht festgelegt.“ 

Mit einer Parlamentsabstimmung könne die EU also gerettet werden. In diesem 
Sinne haben deutsche Medien sich schon kürzlich offen gegen Referenden aus-
gesprochen: So hieß es etwa, die Ansicht, „direkte Demokratie sei per se 
eine gute Sache“, sei falsch (german-foreign-policy.com berichtete darüber!)


Eine Kettenreaktion

Anlass der Äußerungen war das niederländische Referendum zum EU-Assozi-
ierungsabkommen mit der Ukraine am 6. April. In der Abstimmung wurde 
das Assoziierungsabkommen tatsächlich mehrheitlich abgelehnt. Wenige 
Tage später reagierte das niederländische Parlament darauf, indem es das 
Votum schlichtweg ignorierte und entschied, sich nicht danach zu richten; 
das Referendum sei „nicht bindend“ gewesen, hieß es zur Begründung.

Damit sind die Sorgen des EU-Establishments jedoch nicht ausgestanden. 
In den Niederlanden ist es zur Zeit möglich, ein Referendum zu erzwingen, 
wenn es gelingt, in sechs Wochen 300.000 Unterschriften zu sammeln; 
dies wird als kein unüberwindliches Hindernis eingeschätzt. Wenngleich die 
Referenden sich lediglich auf neue Gesetze beziehen dürfen, nicht aber etwa 
auf die EU-Mitgliedschaft, so stellen Beobachter dennoch fest, dass derzeit 
nur noch 45 Prozent der niederländischen Bevölkerung für den Verbleib 
in der EU sind, 48 Prozent jedoch dagegen.

Damit bröckelt die Mehrheit bei einem Gründungsmitglied der EU. Nach dem 
gestrigen Votum der britischen Bevölkerung ist darüber hinaus eine Ketten-
reaktion nicht auszuschließen. So hat beispielsweise vor wenigen Tagen 
eine Umfrage gezeigt, dass in Schweden, einem Land, das in EU-Fragen 
Großbritannien in vielen Fragen nahesteht, im Falle eines britischen EU-
Austritts lediglich 32 Prozent der Bevölkerung in der EU verbleiben, 36 
Prozent hingegen ebenfalls austreten wollen.

Die schwedische Außenministerin hat vor wenigen Tagen explizit vor 
einem „Spill-Over-Effekt“ gewarnt, sollte das britische Referendum in 
ein „leave“-Votum münden.[11] Letzteres ist nun eingetreten.

Nationale Positionen

Berlin beginnt sich darauf einzustellen, dass die EU erodiert und sich 
zumindest vorläufig nicht im gewünschten Maß für die deutsche Welt-
politik nutzen lässt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat in 
der vergangenen Woche in einem Namensbeitrag in der US-Zeitschrift 
„Foreign Affairs“ geäußert, die EU stecke „in inneren Auseinander-
setzungen“ fest und sei - so wörtlich:  „gestrauchelt“; bis sie sich 
konsolidiert und „die Fähigkeit entwickelt habe, eine stärkere Rolle 
auf Weltebene zu spielen“, werde Deutschland „sein Bestes geben, 
um sich so umfassend wie möglich zu behaupten“

Bundeskanzlerin Merkel hat am Dienstag Abend angekündigt, der 
deutsche Militär-Etat müsse sich dem der Vereinigten Staaten annähern. 
Damit beginnt Berlin seine nationalen Positionen zu stärken.

Gegen das Abbröckeln

Dem steht nicht entgegen, dass die Bundesregierung in den kommenden 
Tagen versuchen wird, Maßnahmen gegen ein weiteres Abbröckeln in der 
EU zu ergreifen; über die Errichtung eines „Kerneuropa“ wird längst 
diskutiert.

Quelle: derhonigmannsagt.wordpress.com

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